Harmonikale Fassaden

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Proportionen und Intervalle für ästhetische Fassaden

Seit der Mensch begonnen hat, seine Höhlen nicht mehr der Natur abzuringen, sondern selbst zu bauen, ist ein bemerkenswertes Phänomen zu beobachten: Der Wunsch nach Ästhetik, nach Ordnung und nach Harmonie im äußeren Erscheinungsbild seiner Behausung. Der Fassade wird als Gegenstand des ersten Eindrucks ein besonderes Augenmerk geschenkt. Doch wie genau entsteht die Ästhetik am Bauwerk? Und was bedeutet Harmonie in diesem Kontext? Um das zu verstehen, lohnt sich ein Blick über den Tellerrand – hinein in die Welt der Musik, der Mathematik und auch der Natur.

Alltagserfahrungen

Wenn ich durch die Straßen der Siedlung spaziere und die Fassaden ihrer Häuser betrachte, steigen unterschiedliche Befindlichkeiten in mir auf. Manche Fassaden erzeugen eine freudvolle Stimmung, andere eine bedrückende Verstimmung. Warum finden wir manche Gebäude „stimmig“, „ruhig“ oder „einladend“, andere aber eher „unstimmig“, „unruhig“ oder „abweisend“?

Ästhetik ist ein menschliches Grundbedürfnis

Schönheit sei subjektiv, heißt es oft. Doch ganz so einfach ist es nicht. Studien zeigen, dass Menschen aus verschiedenen Kulturen ähnliche Gestaltungsmerkmale als harmonisch empfinden. Linien, die aufeinander abgestimmt sind, ausgewogene Flächenverhältnisse, rhythmische Wiederholungen – all das spricht offenbar ein tiefes ästhetisches Empfinden an, das in uns verankert ist.

Diese universelle Sehnsucht nach Harmonie hat in der Architektur zu Regeln und Systemen geführt, mit denen man Schönheit berechenbar machen wollte. Die Ansätze dazu stammen alle aus der Natur. Der vielleicht bekannteste ist der Goldene Schnitt.

Schwingungen als Auslöser des Empfindens

Der Mensch wird „gestimmt“. Schwingungen bewirken das. Schwingungen sind grundlegende Zustände im gesamten Universum. Es wurden verschiedene Theorien aufgestellt, nach denen alle dauerhaften Dinge im Kosmos aus der ordnenden Kraft von Schwingungen entstanden seien. Auch einige Schöpfungsmythen enthalten solche Hinweise.

Wahrnehmung von Schwingungen

Die Klänge der Worte oder der Musik empfinden wir als harmonisch oder disharmonisch. Mit Licht und Farbe ergeht es uns ebenso. Frequenzen und Wellenlängen bestimmen das Empfinden. Sie sind konstant und optimale Informationsüberträger und -speicher.

Die Dynamik des Statischen

Nicht nur Licht und Klang, auch Orte und Gebäude breiten ihre Schwingungen aus. Geometrische Proportionen entsprechen musikalischen und farblichen. Zahlen, Klänge und Farben hängen über Frequenzen und Wellenlängen zusammen, entsprechen sich. Deshalb können wir Gebäude klingen hören, Klänge sehen und Farben hören.

Schwingungen lassen sich auch sichtbar machen. Stehende Wellen sind in der Lage, fein verteilte Materie an den bewegungslosen Schwingungsknoten zu ordnen, sich versammeln zu lassen. Die Chladnischen Klangfiguren (Kymatik) beruhen auf diesem Effekt.

Der Grundton des Hauses

Grundlage jeder Proportion ist das Grundmaß. Jeder Gegenstand hat durch seine Schwingung sein Grundmaß. Auch der Mensch hat sein persönliches Grundmaß. Das Grundmaß des Gebäudes spricht seine und die Sprache des Ortes. Es wird zum fühlbaren Grundton, der durch seine Anwendung in den Proportionen zum Klangbild, zur Melodie des Gebäudes wird.

Prinzipien der Gestaltung

Künstler und Architekten haben zu allen Zeiten entsprechend ihrer Gestaltungsabsichten versucht, Ausgewogen­heit und Schönheit zu definieren. Solche Prinzipien sind die Proportion, das Intervall und die Symmetrie.

Proportion – eine Frage von Beziehung: Proportionen stellen Verhältnisse dar – Verhältnisse von Elementen zueinander und zum Ganzen. Sie beschreiben, wie Teile in Beziehung zueinander stehen, um eine harmonische und ästhetische Form zu schaffen. Beispiele sind das Verhältnis der Höhe zur Breite eines Fensters oder das Verhältnis der Größe der Fenster zur Größe der Fassade.

Intervall – eine Frage von Bewegung:Intervalle beziehen sich auf die räumliche Anordnung – Abstände oder Distanzen zwischen verschiedenen Elementen in oder an einem Gebäude. Sie bestimmen die Struktur und den Rhythmus eines Gebäudes. Und die Pausen, wo sich das Auge beruhigen kann. Beispiele sind die Abstände zwischen Säulen oder Fenstern in einer Fassade.

Harmonische Gesetzmäßigkeiten

Hier kommen Gesetzmäßigkeiten ins Spiel, die schon seit der Antike bekannt sind. Zwei davon sind die Harmonie (griech. harmonía = Übereinstimmung, Einklang) und die Ästhetik (griech. aisth?tós = sinnliche Wahrnehmung).

Harmonie – die verbindende Qualität:Harmonie ist die Kunst, Unterschiedliches oder Entgegengesetztes in Einklang zu bringen. Harmonie wird so zur Grundlage jeder ausgewogenen Komposition. Sie beeinflusst dabei nicht nur die ästhetische Qualität eines Raumes oder Gebäudes, sondern kann auch das Wohlbefinden und die Stimmung der Menschen positiv beeinflussen.

Harmonie ist das Zusammenspiel einzelner Elemente zu einem sinnvollen Ganzen. In der Musik spricht man von harmonischen Intervallen – Töne, die zusammen eine wohlklingende Einheit ergeben. Die Fassade mit ihren Bestandteilen folgt gleichen Prinzipien: Fensterachsen, Gesimse, Fenster- und Türöffnungen – all das wird nach bestimmten Maßverhältnissen angeordnet, die dem Auge schmeicheln.

Harmonie der Zahlen

Diatonische Intervalle

Sowohl im Sehsinn wie im Hörsinn rufen die Verhältnisse kleiner ganzer Zahlen angenehme Empfindungen bei uns Menschen hervor. Schon Pythagoras entdeckte, dass Klänge, die wir als harmonisch empfinden, auf einfachen Zahlenverhältnissen beruhen: Oktave (2:1), Quinte (3:2), Quarte (4:3).

Diese Proportionen galten nicht nur in der Musik als ideal, sondern fanden auch in der Architektur Anwendung. Die Idee: Wenn der Mensch auf harmonische Verhältnisse in der Musik reagiert, tut er es auch beim Sehen. Harmonische Intervalle sind konsonant, ausgewogen, in sich ruhend.

Wurzelproportionen

Im Laufe der Geschichte wurden auch Wurzelzahlen wie ?2 Quadratur, ?3 Triangulatur und weitere in Proportionen verwendet, um bestimmte Verhältnisse zwischen den Teilen eines Gebäudes oder einer Konstruktion zu definieren. Da diese meist nicht durch eine ganze Zahl darstellbar sind, wurden Näherungen verwendet, die für die jeweiligen Baumeister ausreichend genau waren.

Der Goldene Schnitt

Die bekannteste Proportion ist der Goldene Schnitt (lat. sectio aurea oder regula area), auch Göttliche Proportion (lat. proportio divina oder sectio divina) genannt. Das Teilungsverhältnis 1,618 heißt ?=(Phi) nach Phidias. Auch Euklid behandelte den Goldenen Schnitt in seinem Werk „Elemente“.

Die Verhältnisse des Goldenen Schnittes stammen aus der Natur und ihrem natürlichen Wachstum. In der Architektur erzeugt er eine Spannung zwischen Symmetrie und Asymmetrie, die als besonders angenehm empfunden wird.

Menschliche Proportionen

Vitruv, Leonardo da Vinci und Le Corbusier fanden die Grundlagen ihrer Proportionssysteme in der menschlichen Gestalt. Hier wurden alle Größen aufeinander bezogen. Le Corbusier entwickelte ab 1940 ein einheitliches Maßsystem basierend auf den menschlichen Maßen und den Eigenschaften der Fibonacci-Zahlen und dem Goldenen Schnitt. Er veröffentlichte es 1949 in seiner Schrift Der Modulor.

Wozu soll das gut sein?

Wirkung und Verträglichkeiten

Die Wirkung von diatonischen Intervallen, Wurzelproportionen oder des Goldenen Schnittes und deren Verträglichkeit untereinander kann über die Prüfung des Wohlklangs überprüft werden. Die dementsprechenden Wellenmuster werden auf den Plan aufgetragen.

Die harmonikale Architektur ordnet Bauteile so an, dass sie auf den Schwingungsknoten liegen. Dabei achtet sie auf die Hierarchie der raumbildenden Bauteile. Sie ordnet über eine harmonikale Ordnung jeweils diejenigen Bauteile, die auf der gleichen Hierarchieebene liegen. Damit erzeugt sie Bauwerke, die aufgrund der sichtbaren Proportionen ästhetisch und wohltuende Klangträger sind.

Die Fassade als Partitur

Eine harmonikale Fassade ist wie ein wohlkomponiertes Musikstück. Sie spielt mit Höhen, Breiten, Rhythmen und „Klangfarben“ – nur eben visuell. Fensterachsen, Gesimse, Vorsprünge, Balkone – all das sind Elemente, die, wenn sie wohlproportioniert zueinanderstehen, ein harmonisches Gesamtbild erzeugen.

Dabei geht es nicht um Gleichförmigkeit, sondern um ein ausgewogenes Verhältnis der Teile zum Ganzen. Eine Fassade wirkt harmonisch, wenn sich ihre Teile zueinander „verhalten“ – ähnlich wie die Töne in einem Akkord.

Beispielsweise kann die Breite eines Fensters im Verhältnis zur Höhe eines Geschosses einem musikalischen Intervall entsprechen. So entstehen „visuelle Akkorde“, die wir als angenehm empfinden, ohne dass uns bewusst ist, warum.

Wellenlängen, die im Verhältnis kleiner ganzer Zahlen zueinander stehen und miteinander in Resonanz kommen, regen sich gegenseitig zum Mitschwingen (Mitklingen) an.

Warum das alles wichtig ist

Wir leben heute in einer Welt voller visuellem Lärm. Eine harmonische Fassade kann inmitten dieser Reizüberflutung ein Stück Ruhe und Ordnung vermitteln. Sie wirkt ausgleichend auf unser Auge – und auf unsere Seele. Sie spricht ein tiefes, oft unbewusstes Bedürfnis nach Gleichgewicht und Schönheit an.

Wenn wir also über Wohnhäuser sprechen, sprechen wir nicht nur über Quadratmeter, Dämmwerte oder Mietpreise. Wir sprechen auch darüber, wie wir uns in unserer Umgebung fühlen. Ob wir zur Ruhe kommen. Ob wir uns „zu Hause“ fühlen – nicht nur innen, sondern auch außen herum.

Was das mit unseren Wohnhäusern zu tun hat

Heute steht bei Wohnbauten oft die Funktion im Vordergrund: Energieeffizienz, Raumaufteilung, Kosten. Doch die äußere Gestaltung wird deshalb nicht unwichtiger, im Gegenteil: Gerade in einer zunehmend rationalisierten Welt suchen wir nach Schönheit und Identität. Und dabei spielen Fassaden eine große Rolle – sie prägen das Straßenbild, beeinflussen das Lebensgefühl und vermitteln einen ersten Eindruck vom Inneren.

Viele Architekten greifen bewusst auf diese Prinzipien zurück: Der Goldene Schnitt, das Spiel mit geometrischen Grundformen, die rhythmische Gliederung der Fassade – all das wird genutzt, um moderne Gebäude ansprechend und zeitlos zu gestalten.

Die Proportionsarbeit kann bis in die Möblierung fortgesetzt werden. Alle im Wohnhaus gebräuchlichen Maße liegen, übertragen in akustische Töne, im hörbaren Bereich, sodass stets eine Überprüfung mittels einer Klangprobe möglich ist.

Zu guter Letzt

Keine noch so bekannten und beliebten Proportionen machen ein architektonisches Kunstwerk schon harmonisch, dazu bedarf es vor allem der Genialität des Architekten und seinem Umgang mit festen Proportionen. Und mit den anderen architektonischen Ausdrucksträgern, wie Form, Farbe und Material.


Über den Autor:

Mag. Wolfgang Strasser ist Lebensraumberater und -coach, Unternehmens- und Kommunalberater. Mit RAUMIMPULSE berät er Menschen bei der Gestaltung ihrer Lebensräume.

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